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Aufgabe einer Führungskraft ist es, den Mitarbeitenden Orientierung zu geben und sie zu befähigen, aktiv Verantwortung zu tragen und für ihr Tun einzustehen.
Aufgabe einer Führungskraft ist es, den Mitarbeitenden Orientierung zu geben und sie zu befähigen, aktiv Verantwortung zu tragen und für ihr Tun einzustehen. (Bild: AndreyPopov/iSTock/Getty Images plus)

Diversität: „Lernbedarf für Neues wird unterschätzt“

Wir wollten von Dr. Michael Nießen wissen, wie der ehemalige Chief Procurement Officer der Deutsche Post DHL Group heute über Themen wie Führung, Verantwortung, Diversität denkt. Was hat er gelernt – und was gibt er Managern und Mitarbeitenden mit auf den Weg?

„Wir neigen dazu, Dinge so zu sehen, wie wir sie gerne hätten. Um nachhaltige Erfolge zu erzielen, muss man über den Tellerrand hinausblicken, Impulse aufnehmen und entsprechend handeln.“ Das hat der promovierte Jurist bereits 2012 im Hintergrundgespräch mit dem Magazin „BIP – Best in Procurement“ postuliert. Offenheit gegenüber Menschen und Methoden verhindere das Abheben, und davon profitiere schließlich das Team, so Nießen damals. Ein Themenkomplex, der keinem Trend unterliegt und in seiner Bedeutung auch heute noch weitgehend unterschätzt wird.

Dr. Michael Nießen, ehemaliger Chief Procurement Officer bei DHL.
Dr. Michael Nießen, ehemaliger Chief Procurement Officer bei DHL.

Michael Nießen, über den Tellerrand hinaus blicken viele Führungskräfte – zumindest fachlich. Aber nur wenige sind in der Lage, Impulse zu geben, zu delegieren und zu motivieren. Woran liegt das?

So banal das klingen mag: In erster Linie sind wir als Führungskräfte für eine gescheite Kommunikation verantwortlich – und damit auch für eine gescheiterte. Ich muss jeden Tag den Erfolg des Unternehmens und das meiner Leute im Blick haben. Erfolge von Projekten und Strategien stehen und fallen mit der Art der Kommunikation. Gefordert sind nicht nur Empathie und Verständnis, sondern auch Geduld und Zeit. Neues muss erklärt werden. Die Eingebundenen müssen erkennen und verstehen. Nur so entsteht Akzeptanz. Wichtig ist, dass der tatsächliche Lernbedarf – etwa für digitale Neuerungen, die schnell auch zu subjektiv empfundener Überforderung führen – richtig eingeschätzt wird. Durchpeitschen wirkt sich unweigerlich negativ auf die Lernkurven aus. Wer Change Management ausruft, muss sich auch selbst Zeit für sinnhaftes Organisieren und Moderieren nehmen. Dazu gehört freilich immer auch das stete Hinterfragen des eigenen Denkens und Handelns.

Was bedeutet es genau, Verantwortung für Einzelne und für die ganze Mannschaft wahrzunehmen?

Innerhalb der Hierarchie auf dem Papier als verantwortlich gekennzeichnet zu sein, wird immer gern genommen, insbesondere für das eigene Image. Als Führungskraft ist es aber meine Aufgabe, meinen Leuten Orientierung zu geben und sie zu befähigen, aktiv Verantwortung zu tragen und für ihr Tun einzustehen. Das ist nicht nur in einer ausdifferenzierten Organisation die tatsächliche Herausforderung. Skill und Will jedes Einzelnen gilt es zu erkennen. Danach sollten Aufgaben und Ziele verabredet werden. Jeder muss nach bestem Wissen und Können agieren, sich damit im Team einbringen und auch die Konsequenzen des eigenen Handelns und Entscheidens tragen. Und dafür dürfen die Mitarbeitenden die bestmögliche Unterstützung ihrer Führungskraft erwarten.

Also gesunde Balance zwischen Anleiten und ins kalte Wasser werfen. Und welche Rolle spielt Fehlerkultur?

Auch die gern propagierte Fehlerkultur ist oftmals nicht mehr als ein Papiertiger. Es ist einfach zu vertreten, dass Fehler nötig sind, um sich zu entwickeln. Aber wenn sie passieren, ist die Toleranzgrenze meist sehr niedrig. Die Gründe sind Ungeduld und unter- oder überschätzte Fähigkeiten. Das kulturelle Umfeld und die persönliche Situation Einzelner sind dabei unbedingt zu beachten. Ich muss mich auch selbst fragen: Habe ich meine hehren Vorsätze bei der Beurteilung möglicherweise doch nicht wie beabsichtigt umgesetzt? Wichtig ist, dass im gegenseitigen Feedback geklärt wird, was geht, was nicht und was man besser machen wird. Mich hat hierbei das Upwards Feedback weitergebracht. Dabei habe ich nicht nur gelernt, wie mein Team mich wahrnimmt. Wir haben überdies Ursachen und Motivationen für Verhalten und Entscheidungen ungeschminkt erörtert. Das war für das Team und für mich nicht immer einfach und hat viel Vertrauen erfordert. Aber die Offenheit hat immer geholfen.

Wie wichtig sind Vision, Mission und Ziele?

Ziele machen wenig Sinn, wenn ein Unternehmen keine klare Vision und Mission hat. Erst wenn diese formuliert und kommuniziert sind, lassen sich bedeutsame Jahresziele ableiten. Hier bewegen wir uns allerdings in einem Spannungsfeld. Wie kann jeder Einzelne in seinem Einflussbereich die Ziele erreichen – versus übergreifende allumfassende Unternehmensziele, die tatsächlich oder gefühlt für den Einzelnen nur bedingt bzw. gar nicht beeinflussbar sind. Hier habe ich eine klare Priorität: An erster Stelle steht immer das Unternehmen, dann erst folgt der eigene Bereich. Ziele, die ohne holistischen Blick auf das Wohl des Unternehmens ausgegeben werden, sind kontraproduktiv. Sie müssen zudem dynamisch sein. Das hat uns nicht zuletzt die Pandemie gelehrt. Aber: Ziele, die nicht verstanden und akzeptiert werden, sind sinnlos. Deshalb müssen sie gemeinsam erarbeitet werden.

Warum ist Diversität ein Wettbewerbsvorteil?

Wir bringen unsere persönlichen Erfahrungen, erlebte Geschichten und Prägungen mit an den Arbeitsplatz – und damit zugleich ein Füllhorn an Ideen. Je besser ich die Geschichten meiner Leute verstehe, desto besser kann ich Ideen und Verhalten einordnen und daraus ein erfolgreiches, facettenreiches Team bilden. Voraussetzungen sind harte Arbeit am Fall und Spaß, Serviceorientierung, vor allem aber gegenseitige Wertschätzung. Von vielen Ideen werden nur wenige am Ende umgesetzt. Aber wenn ich von vornherein gewisse Aspekte ausblende, beschränke ich den Lösungsraum. Will ich das vermeiden, brauche ich Diversität, also Vielfalt, die am Ende die Resilienz des Unternehmens und des Teams enorm stärkt. Nicht nur für global agierende Unternehmen ist Diversität zwingend notwendig, um Menschen und Märkte zu verstehen und Produkte auf die Bedürfnisse des Kunden auszurichten.

Das Führen unter neuen Rahmenbedingungen wird zunehmend schwieriger. Blockchain, Künstliche Intelligenz, Agilität ... Da gilt es eine ganze Menge zu verstehen und Rollen festzulegen.

Wir brauchen viel intrinsische Motivation, Einsatz und Zeit, um uns mit neuen Technologien auseinanderzusetzen und diese zu verstehen. Dabei gilt es aber auch zu erkennen, welche Konsequenzen eine neue Entwicklung in der Praxis haben wird, und auch, ob man einem Modetrend aufsitzt. Ein Beispiel: Beim Thema Blockchain hieß es ganz am Anfang, dass sich damit nahezu alle Prozesse revolutionieren lassen würden. Inzwischen ist die Euphorie verflogen. Man untersucht nun intensiv, wo Blockchain wirklich Sinn macht, nicht zuletzt auch im Hinblick auf den enormen Energieverbrauch und wie man diesen reduzieren kann. Um das zu analysieren, brauche ich ein gut aufgestelltes Team mit unterschiedlichen Erfahrungen und Kompetenzen im Fachgebiet. Hier habe ich zum Beispiel die Digital Natives als große Bereicherung empfunden. Frisches Denken und kritische Fragen werden zwar von einigen Teammitgliedern auch mal als Bedrohung für die eigene Komfortzone erlebt. Aber nur wenn wir uns das eingestehen und dann adäquat zu kommunizieren wissen, lassen sich notwendige Veränderungen kontinuierlich und konsequent angehen. KI ist hingegen kein Modetrend.

Gerade der Einkauf sollte dadurch profitieren. Wir ahnen, was KI leisten kann und mit welch hoher Entwicklungsgeschwindigkeit sich Software selbst weiterentwickeln wird. Wir werden globale Kontrollmechanismen für sensible Bereiche entwickeln müssen, um die Technologie beherrschbar zu halten. Auf den Einkauf bezogen sehe ich mehr Chancen als Risiken. KI- Tools helfen uns heute schon bei der Weiterentwicklung der eingesetzten Software. Sie helfen uns zum Beispiel dabei, unvorstellbar große Datenmengen zu durchforsten, Muster zu erkennen, um dann die Software anzupassen und zu verbessern. Daraus entstehen wiederum wertvolle Informationen, die belastbare Aussagen und sinnhafte Handlungen ermöglichen.

Um es klar zu sagen, dies gilt nicht nur für große Konzerne. Viele mittelständische Unternehmen befassen sich heute schon intensiv mit dem Thema. Sie stellen Prozesse und Verträge mit veritablem Einsatz von KI auf den Prüfstand und vermeiden mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen auch den Fehler, bestehende Prozesse lediglich zu digitalisieren. Die KI hilft, eingefahrene Wege zu hinterfragen und in großem Tempo Verbesserungen zu generieren. Wir können als Team so weiteres Fachwissen aufbauen, uns dazu austauschen und so die oben angesprochenen Risiken reduzieren oder gar vermeiden. Das bedeutet für mich, dass der Mensch auch im Einkauf weiter im Mittelpunkt des Geschehens bleibt. Besser gesagt: Die Menschen im Einkauf werden mit all ihren emotionalen Fähigkeiten auch in Zukunft einen essenziellen Beitrag zum Erfolg des Unternehmens leisten.

Das ist doch mal ein beruhigendes Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Ursel, Journalistin (Wiesbaden)

Sabine Ursel, Journalistin, Autorin und Kommunikationsexpertin, lebt in Wiesbaden und verfügt über langjährige Erfahrung in den Bereichen Medienmanagement und Wirtschaft. Ihre Schwerpunkte: Einkauf, Vertrieb, China-Business etc. Nach dem Studienabschluss übernahm sie vielfältige Führungsaufgaben in renommierten Zeitungs-/Buchverlagen und dem Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) e.V.

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