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Probesitzen auf dem Wilkhahn-Orgatec-Stand: Besitzbare Bewegungsobjekte, wie der „Stand up“ in informellen Gebäudebereichen, animieren zu einer spielerischen Bewegungsförderung.
Probesitzen auf dem Wilkhahn-Orgatec-Stand: Besitzbare Bewegungsobjekte, wie der „Stand up“ in informellen Gebäudebereichen, animieren zu einer spielerischen Bewegungsförderung.

Gesunde Büroarbeit?

Nachdem in den letzten Jahrzehnten Gebäude, Prozesse und Einrichtungen vor allem auf Bequemlichkeit ausgelegt und Flächenreduktion und -verdichtung zum Maß aller Dinge wurden, ist jetzt ein Umdenken gefordert: Im gesunden und nachhaltigen Büro ist nicht noch mehr Entlastung, sondern im Gegenteil mehr Bewegung das Gebot für die Konzeption und Planung gesunder Büroarbeitswelten.

Seit Jahrzehnten werden die Gebäudekonzepte und die Büroprozesse optimiert, um die körperlichen Belastungen zu reduzieren. Mit Erfolg: Kurze Wege, Barrierefreiheit, Aufzüge und Rolltreppen kennzeichnen die Bewegungen durch die Gebäude. „Cockpitorganisation“, korsettähnliche Bürostühle und ein zweidimensionaler Desktop, durch den man per Mauseklick navigiert, bestimmen den Bewegungsraum am Arbeitsplatz. Statt Akten zu wälzen, Ordner zu schleppen, Post- und Botengängen ist nur noch die Bewegung der Finger gefordert, um die Büroarbeit zu bewältigen. Und das Ergebnis? Die Menschen im Büro werden immer kränker!

Demografischer Wandel, alternde Belegschaften und Fachkräftemangel rufen inzwischen die Unternehmen und selbst die Politik auf den Plan. Die Kernfragestellung: Wie müssen Arbeitsplätze und -abläufe gestaltet sein, damit Mitarbeiter langfristig motiviert, gesund und leistungsfähig bleiben? Im Rahmen des Europäischen Sozialfonds (ESF) wurde ein umfangreiches Förderprogramm aufgelegt, um die Zukunftsfähigkeit gerade mittelständischer Unternehmen zu fördern. Neben „Führung“, „Chancengleichheit und Diversity“ sowie „Wissen“ ist „Mitarbeitergesundheit“ ein zentrales Handlungsfeld des Programms. Volkskrankheit RückenschmerzenWie groß der Handlungsbedarf ist, zeigt ein Blick auf das Gesundheitswesen. Laut BKK-Statistik sind seit 2006 die krankheitsbedingten Ausfalltage je Versichertem um ein Drittel angestiegen. Die Bertelsmann Stiftung errechnete 75 Milliarden Euro Verlust für die deutsche Volkswirtschaft durch krankheitsbedingte Fehltage und Fehlleistungen. Und laut TK Gesundheitsreport 2014 verursachen allein die Rückenbeschwerden in Deutschland rund 40 Millionen Krankheitstage pro Jahr – Tendenz steigend. Und das, obwohl die schweren körperlichen Arbeiten zugunsten von immer mehr Büroarbeit deutlich zurückgehen. Professor Ingo Froböse, Leiter des Zentrums für Gesundheit der Deutschen Sporthochschule Köln, erläutert, warum die körperliche Entlastung im Büro zum Bumerang geworden ist: „Ein lebendiger Organismus basiert auf dem Prinzip von Reiz und Reaktion: ohne Durst kein Trinken, ohne Hunger kein Essen, ohne Stimulanz keine Fortpflanzung. Alle biologischen Kompetenzen benötigen Reizsetzungen, um aktiviert zu werden. Ohne solche Herausforderungen verkümmern die Fähigkeiten, über die wir verfügen.“ Die Muskulatur bilde sich zurück und der gesamte Skelett- und Gelenkapparat werde destabilisiert. Inzwischen würden über 80 Prozent der Rückenschmerzen nicht durch Überlastung sondern durch körperliche Unterforderung verursacht.

Kombination aus Stress und Bewegungsmangel

Dramatisch sind die Zuwachsraten bei den Fehlzeiten, die durch depressive Verstimmungen verursacht werden. Sie liegen inzwischen fast gleichauf mit Krankschreibungen aufgrund von Beschwerden im Muskel- und Skelettsystem. Stressforscher sehen in der dauerhaften mentalen Überlastung bei gleichzeitiger körperlicher Unterforderung eine wesentliche Ursache dafür: Bei Stress werden Hormone und Neurotransmitter ausgeschüttet, die den Organismus in Alarmbereitschaft und unter Spannung setzen. Wird diese Disposition nicht in Bewegung umgesetzt, ist die Stoffwechselrate zu niedrig und es kommt nicht nur zu schmerzhaften Verspannungen sondern auch zu Schädigungen des Immunsystems. Das kann sich in Depressionen bis hin zum Burnout-Syndrom auswirken. Bewegungen als „natürliche“ Reaktionen zur Stressbewältigung sind aber weder in einer haltungsorientierten Ergonomie noch in der Arbeitsorganisation vorgesehen.

Alle neuen Erkenntnisse aus der Gesundheitsforschung unterstreichen demnach die vitale Bedeutung von physischer Aktivität für die biologischen Stoffwechselprozesse. Wenn jedoch Bewegung für den Körper und das Wohlbefinden so wichtig ist – warum bewegen sich die Menschen dann nicht einfach mehr? Evolutionsforscher erklären dieses Phänomen mit der angeborenen „Energieeffizienz“: Weil Kalorienknappheit in der Evolution den Normalfall darstellte, wird Energie nur dann verbraucht, wenn es unbedingt sein muss. Das erklärt die vorherrschende Bewegungsfaulheit, die durch den technologischen Fortschritt zum komatösen Bewegungsmangel geworden ist. Computer, Laptop, Tablet, Smartphone und Co. maximieren Erreichbarkeit (und mentale Dauerbelastung) und minimieren aber gleichzeitig den Bewegungsraum, der zu ihrer Bedienung erforderlich ist. In einer fatalen Symbiose dazu verbannen viele „Lean“-Konzepte Bewegungen und Wegstrecken als „nicht produktiv“ aus Prozessen und Gebäuden. Auch die Technologien zur Gebäudeautomation und selbst so manche „Green Building“-Strategien müssen vor diesem Hintergrund kritisch hinterfragt werden. Das Fraunhofer Institut hat in einer Studie den Energieverbrauch für Aufzüge in den 27 EU-Staaten ermittelt. Mit 18 TWh entspricht er dem jährlichen Gesamtverbrauch für den Schienenverkehr in Deutschland! Anstatt in immer effizientere Aufzugstechnologien zu investieren, könnten attraktiv gestaltete Treppen gleich doppelten Nutzen bringen: Weniger Aufzugsfahrten mit entsprechend reduziertem Energieverbrauch und gleichzeitig eine erwünschte Erhöhung der biologischen Stoffwechselrate durch das Treppensteigen. 

Bewegungs- statt Haltungsorientierung

Auch die einseitige Haltungsorientierung der Ergonomie hat sich als Sackgasse erwiesen. Dass beispielsweise die aufrechte Sitzhaltung „richtig“ sei, hat wenig mit Gesundheit aber viel mit sozialen Konventionen zu tun, etwa um Respekt zu signalisieren oder Disziplin und Kontrolle zu erleichtern. Biologisch betrachtet ist jedoch jede Sitzhaltung, die der Körper schmerzfrei einnehmen kann, richtig und wichtig, um Gelenkfunktionen und Muskulatur zu stimulieren. Auch die Behauptung, dass sich nur konzentrieren kann, wer sich nicht bewegt, ist längst widerlegt. Hier setzen neuartige Sitzkonzepte an, die häufige und vielfältige Bewegungen fördern. Das Zentrum für Gesundheit hat deren Auswirkungen auf Gesundheit und Leistungsfähigkeit genau untersucht.

Die Ergebnisse einer vergleichenden Feldstudie sind eindeutig: Die Gruppe auf dreidimensional beweglichen Bürostühlen hatte bereits nach drei Monaten ihre Konzentrationsleistung deutlich gegenüber der Kontrollgruppe gesteigert – auch ihr subjektives Wohlbefinden verbesserte sich signifikant. Die Studien zeigen auch, dass bereits kleine Veränderungen große Wirkungen bei der Verbesserung der Stoffwechselrate zeitigen. Auch das bisherige Verständnis des betrieblichen Gesundheitsmanagements sollte überdacht werden. Unternehmen investieren viel Geld, um Mitarbeiter in Pausen und nach Feierabend zu mehr Bewegung zu animieren.

Bürowelt zum Bewegungsraum machen

Ist es nicht viel naheliegender und wirtschaftlicher, die Bewegung wieder in die Räume und in die Prozesse zurückzubringen, als zu versuchen, die Versäumnisse außerhalb der Arbeitszeit zu kompensieren? Das beginnt bei mehr Bewegung am Schreibtisch, führt über Besprechungen im Stehen und körperliche Aktivierung bei Workshops und Seminaren bis zur bewussten Wegeverlängerung oder zur beschränkten Aufzugsnutzung. Wie sich sinnvolle ökonomische, soziale und gesundheitliche Synergien erzielen lassen, zeigt das Beispiel der Umstellung von Einzeldruckern am Arbeitsplatz auf zentrale Etagendrucker: Die Qualität des Druckers kann bei geringeren Kosten deutlich höher sein, es werden ökologische Rucksäcke bei der Herstellung und Betriebsenergie eingespart, die Lärm- und Feinstaubemissionen am Arbeitsplatz werden vermieden, häufigeres Aufstehen und zum Drucker Laufen fördern Gesundheit und mentale Leistungsfähigkeit und nicht zuletzt werden in den zufälligen Begegnungen auf dem Weg zum und am Drucker Wissensaustausch und sozialer Zusammenhalt gestärkt. Die Förderung körperlicher Aktivitäten durch entsprechend gestaltete Raumprogramme, Erschließungszonen und Zuwegungen hat direkte, positive Auswirkungen auf die physiologische und psychologische Mitarbeitergesundheit sowie die betriebliche Performance. Entzerrung statt Verdichtung, Anreicherung statt Reduktion, Stimulation statt Restriktion, Begegnung statt Trennung – das sind neue Leitbegriffe für die Gestaltung nachhaltiger und gesunder Arbeitswelten. Ob mit Treppen, Stegen, Plätzen, abwechslungsreichen „Landschaften“ oder gezielter Lichtlenkung – im Verständnis von Bürogebäuden als Bewegungsräumen liegt einer der wichtigsten Schlüssel für gesunde, motivierende und nachhaltige Bürokonzepte.

www.wilkhahn.de

(Auszug aus: „Nachhaltige, gesunde Büroarbeit“, Autor Burkhard Remmers in „Nachhaltigkeit in Deutschlands Büros“ – Ein Fachbuch der Redaktion C.ebra, 1. Auflage 2014, Verlag Chmielorz, ISBN 978-3-87124-381-3)

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